Für mehr Miteinander
Was ist den Menschen in einem vermeintlichen Problemviertel wichtig, welche Anliegen haben sie? Wie können sie selbst aktiv werden, um das Miteinander solidarischer und für alle besser zu gestalten?
Diese Themen greift die Initiative „Community Organizing im Brennpunkt“ des Teilprojekts „Bildungslandschaften in ländlichen Räumen“ auf. Miriam Pieschke, wissenschaftliche Mitarbeiterin, berichtet auf der Science Couch von dem Projekt, das derzeit in Stendal-Stadtsee umgesetzt wird.
Frau Pieschke, mal ganz grundlegend: Bildung wird in formelle, non-formelle und informelle Bildung unterteilt; was genau versteht man denn unter diesen drei Einstufungen?
Miriam Pieschke: Ich glaube, die meisten denken beim Thema Bildung an das, womit sie direkt Erfahrungen gemacht haben, also das, was wir formelle Bildung nennen. Das ist Bildung, die in Bildungsinstitutionen wie Kitas, Schulen, Hochschulen oder Universitäten stattfindet. Bildung findet aber nicht nur statt, wenn ich in einen Raum gehe und es dort einen Lehrplan und einen Lehrer oder eine Lehrerin gibt, sondern auch an vielen anderen Orten. Die beiden anderen Begriffe wurden geprägt, um zu verdeutlichen, dass es noch andere Bereiche gibt, in denen Bildung stattfindet. Informelle und non-formelle Bildung bedeutet eigentlich nur, dass es einen ganzen Bereich in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung gibt. Auch im Bereich der Jugend- und Sozialarbeit findet Bildung statt, das ist der Bereich der non-formellen Bildung. Dann gibt es noch den Bereich der informellen Bildung, die eher im Privaten stattfindet, wenn ich zum Beispiel meine Freunde und Freundinnen treffe, im Jugendclub an einem Projekt arbeite oder mir eine Doku im Fernsehen anschaue. Auch dabei finden Bildungs- und Lernprozesse statt.
Wenn ich das richtig verstehe, ist Ihr Projekt „Community Organizing im Brennpunkt“ in die non-formelle Bildung einzuordnen. Wie sieht Ihr Projekt denn konkret aus?
Miriam Pieschke: Dass das Wort „Brennpunkt“ in Anführungszeichen steht, ist uns wichtig, weil der Begriff oft verwendet wird, um Stadtteile zu stigmatisieren. Konkret sind wir hier in einem Stadtviertel, und zwar in Stendal, und versuchen mit möglichst vielen Leuten aus diesem Viertel darüber ins Gespräch zu kommen, was ihnen eigentlich wichtig ist. Was wichtig ist für ihre Nachbarschaft, für ihr Viertel, für ihr Leben. Mit ihnen gemeinsam versuchen wir dann daran zu arbeiten, diese Anliegen umzusetzen. Wir greifen solche Anliegen auf, bei denen es darum geht, die Gesellschaft solidarischer zu gestalten und für ein besseres Miteinander zu sorgen. Möglichst viele Menschen sollen in dem konkreten Stadtviertel ein gutes Leben haben.
Nehmen Sie uns doch mal mit hinter die Kulissen. Wie kann so ein Tag aussehen, wenn Sie in dem Viertel zusammenkommen und gemeinsam Aktivi- täten bestreiten?
Miriam Pieschke: Ehe es zu so einem gemeinsamen Tag kommt, braucht es ganz viel Vorlauf. Wir haben im letzten Jahr angefangen, Gespräche zu führen. Wir haben also an Wohnungstüren geklingelt und wollten damit möglichst viel über die Nachbarn und Nachbarinnen und darüber, was ihnen wichtig ist und wie sich ihr Leben im Viertel gestaltet, erfahren. Später haben wir auch Straßenzeitungen ausgelegt, wodurch Leute angelockt wurden, mit denen wir dann ins Gespräch kommen konnten. So haben wir eine ganze Menge Kontakte geknüpft. Am Ende dieser Gespräche haben wir immer gefragt, ob die Menschen sich vorstellen können, mit uns zusammen etwas zu machen. Wenn sie sich das vorstellen konnten, haben wir sie zu einem ersten Treffen eingeladen. Dort haben wir dann erarbeitet, woran wir zusammenarbeiten wollen und wie wir das umsetzen können. Danach haben wir möglichst viele Nachbarinnen und Nachbarn zu einem gemeinsamen Mittagessen eingeladen. Eine Sache, die uns viele Leute gesagt haben, ist, dass sie sich mehr Nachbarschaftlichkeit und mehr Miteinander wünschen. Über dieses Mittagessen hinaus, bei dem es darum geht, dass Menschen viel miteinander reden und in den Austausch treten, gibt es auch immer einen kleinen Programmteil. Dieser ist ganz unterschiedlich aufgebaut. Es gab zum Beispiel ein Puppentheater, davor haben wir einen kleinen Videoclip geguckt, bei dem verschiedene Dinge angesprochen wurden. Später haben wir die Leute darum gebeten, mit uns in den Austausch über die im Video angesprochenen Themen zu kommen und uns zu sagen, was ihnen konkret wichtig ist. Aus diesen Treffen heraus soll dann im nächsten Jahr ein neues Format entstehen. Wir wollen gemeinsam überlegen, was wir machen und was wir konkret verändern wollen.
Wir haben aus Ihrer Erzählung gut erschließen können, warum es so wichtig ist, die direkte Verbindung zu der Nachbarschaft im Viertel zu haben. Wieso sollte denn dieser Austausch noch viel stärker gefördert werden?
Miriam Pieschke: Für mich ist das erstmal eine Frage der demokratischen Beschaffenheit einer Gesellschaft. Für mich geht es in einer Demokratie darum, dass möglichst viele Menschen an der Gestaltung von Gesellschaft beteiligt sind. Das kann über Wahlen oder Engagement passieren oder darüber, sich mit anderen Leuten zusammenzutun und zu sagen, mit welchen Dingen man nicht einverstanden ist. Das kann ich dadurch erreichen, indem ich Vertreter und Vertreterinnen wähle, die meine Interessen vertreten und auch dadurch, dass man Druck erzeugt, damit sich Dinge verändern. Ich glaube, es tut gut, wenn man mit anderen Menschen über seine Probleme und Anliegen redet und wenn man merkt, man ist nicht allein damit. Wir versuchen, Leute, die oft nicht gehört werden, darin zu stärken, sich zu beteiligen.
Werfen wir mal einen Blick in Ihr Team: Wie läuft die Zusammenarbeit ab und wie teilen Sie sich die verschiedenen Aufgaben untereinander auf?
Miriam Pieschke: Wir versuchen, eine vielfältige Gruppe zu sein. Ich bin die Einzige in dem Projekt, die dafür bezahlt wird, alle anderen Mitwirkenden machen eigentlich etwas Anderes. Das sind engagierte Bürger und Bürgerinnen, Rentner und Rentnerinnen, Studierende, Leute, die Jobs haben, Leute, die sich in Vereinen engagieren und denen das Viertel und die Nachbarschaft wichtig ist und auch studentische Mitarbeiterinnen. Über die Gespräche, die wir zu Beginn im Viertel geführt haben, haben wir versucht, möglichst viele Menschen zu finden und schließlich sind wir eine Gruppe von relativ vielen Leuten geworden. Das ist das „Wir“, von dem ich immer spreche. Alle sind eingeladen, das Projekt mitzugestalten. Es soll kein Projekt sein, das ich mir an meinem Schreibtisch ausgedacht habe und das gut klingt, sondern es soll ein Projekt sein, bei dem die Leute hinterher sagen, dass sich für sie etwas verändert hat, und zwar nicht, weil die Hochschule das für sie gemacht hat, sondern weil wir gemeinsam etwas verändert haben.
Dieser SCIENCE TALK fand anlässlich der „Connect you – Regionale Messe für Sozialwirtschaft und Wirtschaft“ im November 2019 auf dem Stendaler Campus der Hochschule Magdeburg-Stendal statt. Moderiert wurde das Gespräch von Cara Buchborn und Simeon Laux.
Miriam Pieschke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hochschule Magdeburg-Stendal und im TransInno_LSA-Projekt „Bildungslandschaften in ländlichen Räumen“ tätig. In diesem Rahmen koordiniert sie die Initiative „Community Organizing im Brennpunkt”. Weitere Informationen finden Sie unter www.transinno-lsa.de.